Warum geschehen in Afrika mehr Wunder?

Leerer Rollstuhl



Der Unterschied ist offensichtlich: Aus Afrika und aus vielen Dritte Welt Ländern hören wir immer wieder von gewaltigen Wundern: Blinde die sehen, Taube die hören, Lahme die gehen. Warum nicht in Deutschland?

Diese Frage höre ich ständig und sie beschäftigt mich selbst. Woher die Diskrepanz? Woran liegt es?

7 Fragen zum Verständnis

Oft wird die Frage nur mit kurzen pauschalen Antworten abgetan, die das Verständnis der Thematik wenig fördern. Ganz erklären kann ich es mir nicht, aber ich habe ein paar Erklärungsansätze und Fragen zum Weiterdenken:

1. Stimmt unsere Wahrnehmung?

Die meisten Wunder, von denen wir aus der Dritten Welt hören, werden von Missionswerken bekanntgemacht. Wir lesen sie in Newslettern und sehen die Videos. Photographen und Kameraleute dieser Werke sind geschult, jeden Heilungsbericht zu dokumentieren. Sie wollen „von den großen Taten Gottes“ berichten. Wenn nur ein Wunder passiert, hören so oft Hundertausende davon. Nicht zuletzt stehen Missionare leider oft unter dem Druck „Erfolge“ vorweisen zu müssen, da sie von freiwilligen Spenden leben – ein Grund mehr für ausführliche Berichte

Wenn in Deutschland jemand geheilt wird, hören wir oft nichts davon. Das hat mehrere Gründe:

  • Meist geschehen Heilungen im Umfeld der Gemeinde, nicht im Umfeld von Missionsgesellschaften. Gemeinden sind nicht so darauf aus, Wunder zu dokumentieren und „an die große Glocke zu hängen“. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sich durch konstante Spenden der Mitglieder finanzieren – der Druck ist nicht so hoch, auf den eigenen Dienst aufmerksam zu machen.
  • Wer in Deutschland viel von Wundern spricht, wird kritisch beäugt und schnell mit dem Schlagwort „Sektierer“ stigmatisiert. Die Presselandschaft in Deutschlands ist insgesamt tendenziell atheistisch; man will nichts hören, was nicht zum eigenen Weltbild passt. Die meisten Gemeinden und Werke sind daher sehr vorsichtig, von Wundern zu sprechen.

Fazit: Selbst wenn in Deutschland genau so viele Menschen geheilt würden, wie in anderen Teilen der Welt, würden wir davon weniger wahrnehmen

2. Für wie viele Menschen wird gebetet?

Wenn in Deutschland bei einem Gottesdienst oder einer evangelistischen Veranstaltung eingeladen wird, für die eigene Gesundheit beten zu lassen, nehme oft nur wenige das Angebot war. Zu gut ist die medizinische Versorgung, zu groß die Scham, zu niedrig die Erwartungen. Ganz anders in vielen afrikanischen Ländern: Sind 1000 Menschen im Publikum scheint es, dass beim Gebet für Kranke 2000 nach vorne kommen.

Fazit: Selbst wenn prozentual gleich viele Menschen geheilt würden, würden wir aus Afrika mehr Berichte hören, weil für mehr

3. Sind alle Wunder echt?

Das ist nun eine heikle Frage und ich hoffe, ich mache mich damit in meiner „Zunft“ nicht allzu unbeliebt. In vielen Ländern der Dritten Welt ist die medizinische Versorgung eher rudimentär. Weder die Diagnose vor der postulierten Heilung, noch die Diagnosen danach sind auf dem medizinischen Stand, den wir in Westeuropa gewohnt sind. Viele Heilungen können nicht gut dokumentiert werden, selbst wenn man es wöllte.
Massensuggestion spielt eine Rolle. Vor allem wenn es „nur“ um Freiheit von Symptomen (z.B.: Schmerzen) geht, sind solche Effekte nicht ungewöhnlich. Menschen bilden sich ein, geheilt zu sein, auch wenn sie nur (vorübergehend) keine Symptome wahrnehmen. Aber Suggestion hat ihre Grenzen: Sie kann Menschen dazu bringen, Schmerzen nicht wahrzunehmen, aber sie kann keinem Blinden das Augenlicht wiedergeben.

Fazit: Wenn es nur um die Freiheit von Schmerzen geht, ist es manchmal schwer zu sagen, ob eine Heilung echt ist, oder nicht. Wenn es um objektiv fehlende Symptome geht (Ein Blinder, der einen Sehtest besteht, ein Lahmer der läuft) ist Suggestion ausgeschlossen.

4. Sagen alle die Wahrheit?

Ob die Aussagen wahr sind, sprich: ob sie mit der Realität übereinstimmen, hängt auch damit zusammen, ober der Sprecher die Absicht hat, die Wahrheit zu sagen. Diese Frage ist somit eng mit der vorhergehenden Frage verbunden. ((Obwohl ich mich viel mit postmodernen Philosophen beschäftigt habe, bin ich immer noch ein Vertreter der Korrespondenztheorie der Wahrheit: Die Aufgabe der Korrespondenztheorie, wie sie beispielswiese Richard Rorty fordert, und stattdessen lediglich pragmatisch hedonistisch denkt, sehe ich hier nicht als zielführend. Damit wären wir im Bereich der Betrüger und Scharlatane. Mehr zur Forderung Rortys in: Noebel, David A 2007. Kampf um Wahrheit: Die bedeutendsten Weltanschauungen im Vergleich – Humanismus, Marxismus, Esoterik, Postmoderne, Islam, Christentum, 1. Auflage. Gräfelfing: Resch-Verlag, S. 85))
Kulturen haben unterschiedliche Ansichten im Bezug auf Ehrlichkeit und Wahrheit. In den meisten Ländern der Dritten Welt haben Scham und Ehre einen sehr hohen Stellenwert: Es sind Schamkulturen. Dort ist es oft wichtiger, das Ansehen einer Person zu wahren und freundlich zu sein, als faktisch korrekten Aussagen zu machen. Die Beziehungsebene ist wichtiger als die Sachebene. Wenn also ein Missionar / Pastor / Evangelist für jemanden betet und fragt, ob er geheilt wurde, ist die Antwort in dem kulturellen Kontext zu verstehen. Welche Antwort erhofft sich derjenige der betet? Natürlich ein „Ja!“ – und nun wird es schwierig. Derjenige, der das Gebet empfängt, ist sich dessen bewusst. Wenn er nun nicht geheilt wird, bzw. es nicht feststellen kann, ist er in einer Zwickmühle: Auf der einen Seite möchte er die Wahrheit sagen, auf der anderen Seite möchte er den Beter nicht enttäuschen oder bloßstellen. Es könnte ja sonst heißen, er hätte nicht genug Vollmacht im Gebet. Damit hätte der Beter in diesem kulturellen Verständnis versagt. Versagen öffentlich darzustellen würde zum Gesichtsverlust beim Beter führen, er wäre bloßgestellt – das versuchen Menschen aus Schamkultururen zu vermeiden. Die Antwort kann somit oft „Ja!“ sein – auch wenn sie objektiv „Nein!“ ist.

Fazit: Durch das kulturell andersartig geprägte Denken lässt sich manchmal nicht feststellen, was tatsächlich passiert ist.

5. Wozu werden Wunder gebraucht?

Wunder bzw. Heilungen haben zwei wesentliche Funktionen:

  • Sie bestätigen die Wahrheit des Evangeliums (Mt 16,20)
  • Sie lindern die Not und sind somit Ausdruck der Liebe Gottes

Daraus ergeben sich weiterführende Gedanken:

  • In der westlichen Welt sind wir geprägt von neoplatonischem Denken: Die Welt wird als dualistisch gesehen – es gibt eine klare Trennung von Geist und Materie. Es ist für viele Menschen kein Problem, an etwas zu glauben, ohne dass es körperliche bzw. materielle Auswirkungen hat. Wunder im körperlichen Bereich sind somit oft nicht so wichtig, da nicht zwangsläufig vom Körper auf den Geist / die Seele geschlossen wird oder umgekehrt.
  • In großen Teilen der nichtwestlichen Welt ist das Denken ganzheitlicher. Körper und Geist / Seele werden als Einheit gesehen (Der Einfachheit halber werden Seele und Geist hier Synonym für den nichtmateriellen Teil des Menschen gebraucht). Wenn jemand körperlich krank ist, muss dies geistliche Gründe haben. Auch der Umkehrschluss gilt: Wenn sich in der Seele bzw. im Geist etwas positiv verändert muss dies Auswirkungen auf den Körper haben. Heilungswunder sind in solchen Kulturen somit wichtiger, als in der westlichen Welt.
  • Oft ist die Not in der Dritten Welt viel höher als in der Ersten. Wer in Deutschland mit einer Beeinträchtigung lebt, hat Hilfsmittel zur Verfügung, die ihm ein würdigeres Leben ermöglichen: Rollstühle, Blindenschrift, Hörgerate, Blindenhunde – um nur einige zu nennen. Auch ist unsere Gesellschaft – Gott sei Dank – daran interessiert, sie zu integrieren und öffentliche Einrichtungen barrierefreier zu gestalten, so dass sie mit Rampen und Aufzügen auch für Rollstuhlfahrer zugänglich sind. In vielen Ländern der Dritten Welt fehlen derartig Hilfsmittel und Menschen mit Behinderungen werden diskriminiert, stigmatisiert und ausgestoßen. Die große Not macht Gottes Eingreifen notwendig – es wendet die Not ab.

Fazit: Durch das kulturell anders geprägte Denken, haben Wunder oft eine andere Auswirkung auf die Menschen. Durch die große Not und die schlechte medizinische Versorgung sind Wunder nötiger.

6. Liegt es an den Menschen?

Das vorherrschende Weltbild der nichtwestlichen Welt ist animistisch geprägt. Das heißt: Die geistartige Welt ist genau so real wie die Materielle. Zauberei, Magie, Engel und Dämonen sind Teil des Alltags. Es ist damit auch eine viel größere Offenheit da für das übernatürliche Wirken Gottes. Durch die größere Offenheit und den oft kindlichen Glauben geschehen auch mehr Wunder.

Fazit: In vielen nichtwestlichen Ländern gehört das Übernatürliche zum Alltag, die Offenheit für Gottes Wirken ist größer.

7. Liegt es an Gott?

Ist Gott nicht derselbe in Afrika und im Westen? Ist er nicht derselbe „Gestern, Heute Morgen und in Ewigkeit“ (Heb 13,8)? Sicher ist er das! Dennoch scheint er unterschiedlich zu handeln. Gott selbst hat Mission erfunden. In Jesus Christus wurde er selbst der perfekte Missionar. Er kennt die besten Strategien, um jede Nation und jeden Menschen zu erreichen. Es scheint, dass Gott mehr Wunder tut, wo die Not größer ist – weil er Menschen liebt und Not lindern will. Er weiß auch, was für das Weltbild eines jeden Menschen am besten ist. Vielleicht wünschen wir uns Wunder, aber Gott hat viel bessere Wege, um sich zu offenbaren und Menschen zu sich zu ziehen.

Fazit: Gott weiß am besten, was Menschen brauchen. Er weiß, was es braucht, um Menschen an sein Herz zu ziehen – und das sind nicht immer Wunder.

Zusammenfassung

  • Unsere Wahrnehmung ist verzerrt: Von Wundern aus der Dritten Welt wird mehr berichtet, als von Wundern in der westlichen Welt.
  • Wir hören mehr von Wundern aus Afrika, weil für mehr Menschen gebetet wird.
  • Viele Heilungen sind objektiv nachvollziehbar und authentisch, bei manchen bleiben Fragen offen.
  • Nicht jeder, der von einer Heilung berichtet, hat die Absicht, die Wahrheit zu sagen; das ist kulturell bedingt.
  • In der nichtwestlichen Welt sind Wunder wichtiger, um die Wahrheit des Evangeliums zu bestätigen. Die schlechte medizinische Versorgung macht Heilungswunder noch notwendiger.
  • Menschen in der Dritten Welt haben einen viel natürlicheren Umgang zur geistlichen Welt und sind offener für Gottes Wirken.
  • Gott ist zwar überall derselbe, dennoch handelt er nicht überall gleich. Er weiß am besten, wie er Menschen für sich gewinnen kann – auch wenn wir es uns gerne anders wünschen würden.

Und nun?

Sollen wir uns nun mit dem Status Quo abfinden? Viele von uns wünschen sich mehr vom Übernatürlichen Wirken Gottes in Deutschland, in Europa und in der westlichen Welt überhaupt
Doch was dient der Ausbreitung des Reiches Gottes am Meisten? Was ist es, was Menschen brauchen, die Jesus noch nicht kennen? Sind es tatsächlich immer die Wunder? Paulus hat auch die verschiedenen Wünsche von verschiedenen Menschen vor Augen:

Die Juden wollen Wunder sehen, und die Griechen suchen nach Weisheit.

Nicht immer ist das, was Menschen wollen, das was sie auch tatsächlich brauchen. Manche Leute behaupten zwar, sie würden glauben, wenn sie ein Wunder sehen würden, andere denken, wissenschaftliche Beweise oder komplexe philosophische Gedankengänge könnten sie überzeugen. Oft ist aber ganz anders: Das Erleben von Gottes Trost in einer schwierigen Situation, die gelebte Nächstenliebe eines Nachfolgers von Jesus oder das persönliche Zeugnis eines Freundes bewirken oft viel mehr (Wie du dein Zeugnis, deine Geschichte mit Gott erzählen kannst, kannst du hier lernen). Auch Paulus‘ Antwort auf die Bedürfnisse der Menschen war anders, als von vielen erwartet:

Wir aber verkünden den Menschen, dass Christus, der von Gott erwählte Retter, am Kreuz sterben musste. Für die Juden ist diese Botschaft eine Gotteslästerung und für die Griechen blanker Unsinn. 24 Und dennoch erfahren alle, die von Gott berufen sind – Juden wie Griechen –, gerade in diesem gekreuzigten Christus Gottes Kraft und Gottes Weisheit.

Christus selbst ist die Kraft Gottes – und er offenbart sich auf vielen verschiedenen Wegen. Heilungswunder sind nur ein Weg.

Für mehr glauben, für mehr beten

Trotz all dieser Überlegungen bleibt auch bei mir ein Hunger nach mehr! (schau dir dazu meine Predigt an)

Wir dürfen Gott nicht mit unserem Denken begrenzen. Trotz aller Überlegungen dürfen wir Gottes Thron weiter bestürmen, auch in Deutschland und Europa mehr Zeichen und Wunder zu tun. Sie sind ein gewaltiges und wichtiges Werkzeug zur Ausbreitung seins Königreiches – wie wichtig sie sind bleibt zuletzt immer in Gottes Hand.

Buchempfehlungen

Käser, Lothar 2004. Animismus: Eine Einführung in die begrifflichen Grundlagen des Welt- und Menschenbildes ethnischer Gesellschaften. Bad Liebenzell: Verlag der Liebenzeller Mission

Johnson, Bill 2007. Und der Himmel bricht herein: Wie man ein Leben voller Wunder führt. Ein praktischer Leitfaden. Vaihingen an der Enz: Grain Press Verlag

Schirrmacher, Thomas / Müller, Klaus W. (Hrsg.) 2006, Scham- und Schuldorientierung in der Diskussion: Kulturanthropologische, missiologische und theologische Einsichten. Nürnberg: VKW

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